Bundestagspräsident a.D. Norbert Lammert spricht mit MGH-Schülern über den Wert der Demokratie als Kitt der Gesellschaft

Was hält unsere Gesellschaft zusammen? „Die Antwort hängt immer von der Perspektive des Betrachters und dessen Prioritäten ab“, sagte Professor Dr. Norbert Lammert gleich zu Beginn des zweiten Gespräches der MGH-Gesprächsreihe „Kultur, Religion, Moral oder Kapital – Was hält unsere Gesellschaft zusammen?“. Die Frage nach der Verfassung der Bundesrepublik sei eine Frage des Maßstabes und deshalb nicht einfach zu beantworten.

Einfach machte es sich der digital via ZOOM zugeschaltete Bundestagspräsident a.D und Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung an diesem Abend tatsächlich nicht. Zumal auch die Corona-Pandemie alte Gewissheiten ablöse und die Gesellschaft vor neue Herausforderungen stelle: „Politische Entscheidungen sind derzeit vor allem Ermessensentscheidungen“, sagte Lammert. Als Beispiel führte er die gesellschaftspolitische Debatte um die Schulschließungen in der Corona-Pandemie an. Wer hat ein Recht auf Bildung? Wessen Position ist entscheidend? Gerade in dieser Debatte werde deutlich, dass die Demokratie auf Mehrheits- und Konsensentscheidungen basiert – mit allen Konsequenzen. „Autoritäre Systeme sind schneller als demokratische Systeme und auch konsequenter in der Umsetzung der Maßnahmen“, räumte Lammert ein. Allerdings gingen Geschwindigkeit und Konsequenz zu Lasten der Freiheit der Bürger.

Befindet sich unser Land in einer guten Verfassung? Lammert gab zu, mehr offene Fragen als sichere Antworten zu haben. Die MGH-Schüler*innen des Q1-Projektkurses Geschichte von Dr. Andrea Kolpatzik drängten trotzdem auf Antworten.

War der öffentliche Wettstreit um die Kanzlerkandidatur der CSU/CDU-Unionsparteien zwischen Armin Laschet (CDU) und Markus Söder (CSU) angesichts der Herausforderungen der Corona-Pandemie nicht fehl am Platz? „Ich hätte mir die Klärung der K-Frage auch mit etwas weniger Pirouetten gewünscht“, parierte Lammert die Frage von Julian Pollmer.

Inwiefern können sogenannte „Querdenker“ und Corona-Leugner nach der Pandemie überhaupt wieder in die Gesellschaft integriert werden? Lammert räumte auf die Frage von Louis Chowdhury ein, auch hier mehr Wünsche als Gewissheiten formulieren zu können. Seine These: Die Digitalisierung habe die Fundamentalisierung der Gesellschaft beschleunigt. Gerade Social Media erlaube die Kommentierung aller Art. „Niemand verfügt über abschließende Wahrheiten“, sagte Lammert. Dies müsse man aushalten können. Doch „Querdenker“ lehnten genau das ab: „Sie erkennen andere Meinungen nicht an“.

Nach eineinhalb Stunden intensiven Gesprächs gab es dann doch eine Gewissheit: Die Schüler*innen des MGH erlebten – mit freundlicher Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung – nach SPD-Urgestein Franz Müntefering mit Norbert Lammert den zweiten Politiker, der bereit ist, leidenschaftlich für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu streiten.