Beauftragter der Bundesregierung spricht mit MGH-Schülern

von Stefan Gehre

Hamm-Westen – Es sind erschreckende Zahlen, die Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, am Dienstag via Zoom im Märkischen Gymnasium präsentierte: „10 bis 15 Prozent der Deutschen haben juden-feindliche Einstellungen. Und das geht quer durch alle Altersschichten“, sagte Klein zu rund 25 Schülern des Projektkurses „Geschichte“ der Q1 von Dr. Andrea Kolpatzik und der AG „Schule ohne Rassismus“. Zugeschaltet waren Schüler des Humboldt-Gymnasiums in Eichwalde südlich von Berlin, Partnerschule des MGH. Gemeinsam gingen sie der Frage nach, was jeder einzelne tun kann, um dem Antisemitismus auch in ihrer jeweiligen Heimat Einhalt zu gebieten.

Besonders wichtig ist aus Sicht Kleins die Aufklärungsarbeit. Bedenklich stimmt es ihn, dass die Menschen hierzulande immer noch viel zu wenig über das jüdische Leben in Deutschland wüssten. Bei einer nicht-repräsentativen Straßenumfrage seien den Menschen zuerst der Holocaust und die Konzentrationslager eingefallen. Kaum einer habe gewusst, dass heute in Deutschland 150 000 bis 200 000 Juden leben. Dann berichtete er von der Mutter einer Grundschülerin, die der Klassenlehrerin ihrer Tochter angeboten hatte, etwas über das heutige jüdische Leben in Deutschland zu erzählen. Das habe die mit dem Hinweis abgelehnt, dass das Thema „Anne Frank“ erst ab der fünften Klasse behandelt werde. Um jedoch Vorurteile gegenüber Juden abzubauen, sei es wichtig, dass die Menschen mehr über sie und ihr – heutiges – Leben erfahren. „Denn sie sind Menschen wie du und ich.“

Klein befürchtet, dass die antisemitischen Tendenzen in Deutschland weiter zunehmen. „Immer mehr Menschen tun ihre judenfeindliche Haltung in den sozialen Medien kund.“ Und das dürfte sich angesichts der vielen Krisen auf der Welt noch steigern. Denn: Die Erfahrungen aus der Geschichte hätten gezeigt, dass, wenn es einmal nicht so gut lief, Jüdinnen und Juden als Sündenböcke herhalten mussten. Entsetzt sei er darüber, dass während der Pandemie viele Impfgegner sich mit den Juden im Dritten Reich verglichen und den Holocaust relativiert hätten. Seit der Pandemie hätten sich öffentlich gemachte judenfeindliche Positionen in Deutschland verdreizehnfacht. „Judenfeindliche Taten und Äußerungen in Deutschland ziehen sich seit dem Ende des 2. Weltkriegs wie ein roter Faden durch die Geschichte.“ Und dieser Umgang mit Minderheiten sage einiges über den Zusammenhalt in der Gesellschaft aus.

Doch was können die Schüler vor Ort konkret gegen Antisemitismus tun? Klein appellierte an sie, Aufklärungsarbeit zu leisten, wachsam zu sein und die Stimme zu erheben. Und: „Wer judenfeindlich ist, hat oft auch eine Abneigung gegenüber Moslems, Frauen und Minderheiten.“ Den Schulen riet er, sich intensiv mit dem Thema zu beschäftigen. So könnten sie junge Juden einladen, die dann mit gleichaltrigen Schülern über das jüdische Leben in Deutschland reden. Zudem könnten Nachforschungen betrieben werden, ob es während des Dritten Reichs jüdische Schüler und Lehrer an ihrer Schule gegeben hat und was aus ihnen geworden ist. Auch Besuche in Synagogen seien wichtig. Wie Klein ausführte, könne der Staat allein den Antisemitismus nicht bekämpfen. „Wir brauchen eine wachsame Zivilgesellschaft und müssen eine Brücke zum heutigen jüdischen Leben schlagen.“

Das wäre dann auch ganz im Sinne der Holocaust-Überlebenden Edith „Dita“ Kraus, die anlässlich des 84.  Jahrestags der Reichspogromnacht am Mittwoch mit weiteren Schülern des MGH sprach – ebenfalls via Zoom. Dita Kraus war 13 Jahre alt, als sie von den Nazis deportiert wurde. Als einzige ihrer Familie – ihr Vater und ihre Mutter kamen um – überlebte sie den Holocaust. Bereits vor einem Jahr hatte sie die Gelegenheit, mit Schülern des Märkischen über ihr Leben zu sprechen. Sie mache es traurig zu hören und zu lesen, wie viele Deutsche noch immer über die Juden denken und dass der Antisemitismus immer mehr zunimmt. Daher fasste sie ihre zentrale Botschaft mit zwei Worten zusammen: „Gegen Hass“. „Wir müssen unsere Kinder lehren, nicht zu hassen.“ Und daran hat sich auch ein Jahr später nichts geändert.

 

Fahrt nach Polen
Die Gespräche mit Dr. Felix Klein und Edith „Dita“ Kraus dienten als Vorbereitung auf zwei besondere Veranstaltungen im zweiten Schulhalbjahr. Dann wird der Projektkurs „Geschichte“ zu einer Friedensfahrt mit dem Fahrrad aufbrechen. Nach den Osterferien wird eine weitere Schülergruppe nach Polen reisen. Besucht werden sollen unter anderem das Warschauer Ghetto-Denkmal, das jüdische Viertel und die Schindler-Fabrik in Krakau sowie die KZ-Gedenkstätte Auschwitz. Finanziert wird die neuntägige Tour über das Erasmus-Programm.

Aus dem WA vom 10.11.22